„Zirkus. Das ist bestimmt ein ganz
eigenes Leben!“
Das ist es. Zweifellos.
Glanz, Glamour, Freude, Popcorn,
Musik, Lichter, Spaß, Talent.
Das sind Begriffe die man
mit dem Zirkus verbindet – ABER AUFGEPASST:
Wenn die lachenden
Gesichter der Show verschwinden, dann zeigt die Zirkuswelt ihr wahres Gesicht.
Heile Welt sieht anders aus.
Ja, der erste Eindruck
trügt. Es gibt auch ebenso schockierende Dinge im Alltag eines Zirkus.
Außergewöhnliche Menschen mit außergewöhnlichem Lebensstil. Jedoch nicht nur im
positiven Sinne. Ja, es gibt Schattenseiten.
Was spielt sich ab wenn die Scheinwerfer ausgehen?
Dieser Rundbrief ist die
große Enthüllung. Das Geheimnis wird gelüftet.
Ich werde euch einen
Einblick zu Dingen geben, die man als Zuschauer nicht sehen kann.
Herzlich Willkommen zum
Theoretisch habe ich im
letzten Rundbrief bereits von meinem Abschied berichtet.
Du fragst dich warum der
„Blick hinter die Kulissen“ erst danach kommt?
Ein ganz simpler Grund:
Ich möchte diesen Rundbrief symbolisch von meinen anderen Erfahrungen im Zirkus
abgrenzen.
Ja, der Großteil meiner
Zeit im Zirkus war wunderbar, das möchte ich so in Erinnerung behalten, als ein
Kapitel.
Dennoch will ich euch auch
die Schattenseiten des Zirkuslebens nicht vorenthalten – ja, auch sie waren
Teil meines Lebens dort.
Du willst wissen was auf
dich zukommt?
Ja, eines solltest du
bereits jetzt wissen: Im Laufe dieses Berichts wird die Spannungskurve stets
steigen! Sprich: Je mehr du liest, desto schockierender wird es. :)
Doch zunächst möchte ich
ein paar Wahrheiten aufdecken!
Ich
möchte mit einer Zirkuswahrheit beginnen, die jedem von euch als Motivation
dienen soll:
Wenn
man die Artisten zunächst sieht, die „Lichtgestalten“, die tagtäglich im
Applaus der Menge baden, täglich im Mittelpunkt stehen, die ein solch großes
Talent haben, dann denkt man zunächst: Menschen von einem anderen Stern.
Doch
lernt man sie persönlich kennen, dann erkennt man plötzlich:
Hey!
Die kochen auch nur mit Wasser!
Auch
wenn ihre Show noch so spektakulär ist: Sie sind auch nur Menschen! Sie haben
auch Probleme.
Beispielsweise
der Jongleur Yibi (Bild rechts): Er ist tatsächlich farbenblind seit seiner Geburt!
Stellt
euch vor: Letztens musste ich ihm helfen eine Lampe anzuschließen. Warum?
Die
Kabel - Grün? Braun? Man stelle sich vor er hätte sie falsch verkabelt – aber
ich war natürlich so nett und bin ihm hilfsbereit zur Seite gestanden :)
Und
es gibt eine weitere Offenbarung: Auch die Profis kennen Nervosität!
Ich
erinnere mich: Wir hatten eine große VIP-Eröffnung unserer Show und ich wollte
hinter dem Vorhang mit Rosita, die Artistin an den Ringen (Bild links),
plaudern.
Sie,
die Tochter des Zirkusdirektors, UNZÄHLIGE Auftritte, schon ihr komplettes
Leben lang. Und was meinte sie?
„Andreas,
ich bin zu nervös deine Frage zu beantworten!“
Interessant
zu wissen. Und ein Trost und Motivation, dass selbst Berufsartisten und Profis so
etwas wie Nervosität kennen, auch wenn alles immer leicht, locker und lässig aussieht!
Und
noch eine weitere Wahrheit möchte ich aufdecken:
Es
ist wahr: Zirkuskinder gehen nicht zur Schule!
Sie
werden zu Hause unterrichtet. Von ihren Eltern. Genannt: Homeschooling.
Und
letzten Dezember wurde ich Zeuge: Ein Zirkuskind wurde geboren.
Und
da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Zukunft dieses Kindes ist
bereits beschlossene Sache: Zirkus.
Ohne
eine Schulbildung hat das Kind nahezu keine Chance, einen anderen Beruf zu erlernen.
Ein Austritt aus dem Zirkus ist enorm schwer, nahezu undenkbar. Ja, es ist
traurig aber wahr.
LEBENSGEFAHR! Jeder
normale Mensch versucht diesem Zustand aus dem Weg zu gehen. Nicht jedoch die
Motorradfahrer der GLOBE OF DEATH!
Doch man fragt sich: Wie
sieht die mentale Vorbereitung aus, wenn man gleich sein Leben und sogar das
Leben anderer bewusst riskiert?
Wie würde es bei dir
aussehen? Zittern? Schweißausbrüche?
Ich weiß, wie es bei
Profis aussieht. Tagtäglich konnte ich ihre mentale Vorbereitung hinter dem
Vorhang beobachten, mich mit ihnen Unterhalten.
Anspannung? Bei Ricardo (Foto:
Ricardo steht rechts neben mir) nicht zu sehen. Lediglich ein paar lockere
Sprüche, ein paar Witze und dann geht es auf die Bühne. Verrückter Typ.
Ebenso der zweite Rider
Phoenix (Foto ganz links), bei ihm ist die Anspannung allerdings zu spüren.
Und Dominik? (Foto: ganz
rechts) Er hingegen ist hinter der Bühne stets in sich gekehrt. Höchste
Konzentration, ja vielleicht sogar Meditation. Doch sobald der Vorhang aufgeht,
gleicht es einer Explosion:
Unglaubliche Präsenz und
Ausstrahlung – von einem Moment auf den anderen.
Und
nun eine kleine schockierende Tatsache: Sonntage sind im Showbusiness nicht
heilig!
Man arbeitet wie jeden
anderen Tag, der Sonntag hat absolut keine Sonderstellung in der Woche.
Es kommt sogar noch
schlimmer: Wenn der Umzug zu einem neuen Showground bevorsteht, dann wird der
Sonntag sogar zum arbeitsREICHSTEN Tag
der Woche.
Meine Meinung? Ich finde
es ein wenig traurig. Es ist der „Tag des Herrn“ und sollte als Ruhetag gewahrt
werden.
Aber
davon hält man wohl allgemein hier in Australien recht wenig: Selbst
Supermärkte haben sonntags geöffnet.
Und
nun möchte ich dir von etwas berichten, was mir Besonders in meiner ersten Zeit
im Zirkus zu schaffen gemacht hat. Eine recht simple Tatsache:
Ich
wohne an meinem Arbeitsplatz!
Zunächst
denkt man: „Klasse, man spart sich den Weg zur Arbeit“.
Nach
einiger Zeit wurde mir allerdings klar:
Ich
lebe in einem immerwährenden Bereitschaftsdienst.
Gibt
es etwas zu erledigen? Kein Problem, die Arbeiter sind immer anwesend.
Ja,
ein Klopfen an der Türe meines Wohnwagens konnte meinen ganzen Planungen für
den Tag zunichte machen. Im Prinzip musste man all seine Tätigkeiten
unterbrechen und sofort helfen. WIRKLICH sofort helfen. Ich erinnere mich, als
ich gerade auf dem Weg war um mein Mittagessen für den Tag zu kochen. Mittagessen?
Das musste eben ausfallen.
Zu
Beginn hatte ich mich beschwert, das sei nicht möglich dachte ich. Die Antwort:
„Welcome
to the circus“
Wahrhaftig.
Es sei im Zirkus so üblich, da gibt es nichts zu rütteln.
Und
so lebte ich mit einer ständigen Angst vor Klopfgeräuschen! Ich persönlich
hatte meinem Angstzustand zunächst den Namen „Klopferitis“ gegeben, der im
Laufe meines Zirkuslebens allerdings sogar ins Stadium der „Klopfophobie“
mündete.
ANMERKUNG:
Sollte mich in Zukunft jemand zu Hause in Deutschland besuchen wollen, dann
bitte NICHT klopfen! Einfach eintreten ist mir lieber :)
Ob man für das Zirkusleben
geschaffen ist oder nicht, ja, das merkt man bereits nach den ersten Tagen. Das
Resultat?
Einige Arbeiter haben bereits
nach wenigen Tagen einfach ihre Koffer gepackt und sind abgehauen – nachts.
Ohne Voranmeldung – schlicht und einfach zu feige um dem Direktor Bescheid zu
geben. Oder ihre persönliche Niederlage war ihnen zu peinlich.
Ja, sie hatten wohl die
Erkenntnis: Das Zirkusleben ist zu hart.
Hier im Zirkus hat man für
eine solche Flucht bereits einen Namen: „Midnight
flip“
Ja, vor einigen Wochen
hatten wir zwei neue Arbeiter bekommen, sie merkten: Oh, das Zirkusleben ist
kein Zuckerschlecken!
Und was passierte? Nach
wenigen Tagen waren sie eines Morgens plötzlich spurlos verschwunden. Wir
hegten keine Zweifel: Es war ein astreiner Midnight flip.
Und ich war Zeuge! Ich
persönlich pflege zu sagen:
Ist das Zirkusleben
zu hart, bist du zu weich!
Nun
etwas anderes: Wie ihr wisst LIEBE ich das Zirkuszelt.
Ich
hatte so viele schöne Augenblicke dort und so viele positive Gefühle.
Allerdings nicht
immer. Es gab Momente, in denen ich dachte ich wäre der Hauptdarsteller in
„Andreas Schaible und die Kammer des Schreckens“
Besonders
oft kam es beim Auftritt von unserem Jongleur Ricardo vor.
Ich
war stets während seines kompletten Auftrittes auf der Bühne. Ich warf ihm die
Keulen zu, er warf sie zurück, ich warf ihm die Ringe zu uuuuund das hört sich
alles wunderbar an :)
Allerdings
kann einiges schief gehen. Ja, es kam vor, dass ich eine Keule nicht gefangen
habe und sie irgendwo auf dem Boden landete. Theoretisch kein Problem.
Wenn
man sich allerdings vorstellt, dass unzählige Zuschauer im Zirkuszelt sitzen,
dann wird das ganze gleich meeeeeega peinlich.
Und
ich erinnere mich. Es war nach einer langen Nacht. Sage und schreibe zwei Shows
sollten an diesem Tag stattfinden und ich? Sagen wir mal: Ich war nicht
besonders fit :)
Dann
sollte ich den Ring zu Ricardo werfen, hatte mich nicht richtig konzentriert
und…
YIUUUH.
Da flog der Ring an seinem Kopf vorbei.
Mittlerweile
kann ich darüber lachen. In dem Moment wäre ich allerdings am liebsten im Erdboden
versunken :) Und Ricardo? Er warf mir den bösen Blick zu!
Und
nun die gute Nachricht: Wir blieben trotzdem Freunde :)
Ja, es ist wahrhaftig eine
verrückte Zirkuswelt.
Schau dir dieses Foto an :)
Ich habe es schon vor
meinem inneren Auge – Die Werbung des Tattoostudios:
Tattoos mit den Namen der eigenen
Kinder? – LANGWEILIG.
Chinesische Schriftzeichen? – OUT
DU WILLST DEN NEUSTEN TREND?
LASS DIR NOCH HEUTE EIN ZIRKUSZELT
AUF DEN RÜCKEN TATOWIEREN!
BRANDNEU
UND NUR HIER ERHÄLTLICH!
So. Im Folgenden werde ich
euch Personen aus dem Zirkus vorstellen.
Jeweils in einer Art
Steckbrief.
Es sind Personen, die
nicht im Rampenlicht stehen.
Es sind Personen, die in
ihrer Art höchstinteressant sind. Teil aber auch schockierend und teils auch
traurig. Doch ich will nichts vorweg nehmen – mach dir dein eigenes Bild.
Steckbrief:
Name: Loopie Madcat
Alter: unbekannt – ABER:
dem Aussehen nach eine Menge Lebenserfahrung.
Da sind wir nun bei
Loopie.
Absoluter verrückter Typ,
was wohl schon sein Name vermuten lässt:
LOOPIE
MADCAT.
Zunächst dachte ich:
Witziger Spitzname.
Bis er mir dann seinen
Personalausweis gezeigt hat – Es ist tatsächlich sein OFFIZIELLER Name.
Aber nicht nur das ist
außergewöhnlich. Nein. Auch seine Geschichten.
Loopie hat jahrelang in
verschiedenen Zirkussen gearbeitet, in ganz Australien. Dabei zählten auch
Löwen schon zu seinem Aufgabenbereich und er hat mir erzählt, er sei bereits
zwei Mal gebissen worden. Dennoch hätte er noch alle Finger und nur eine kleine
Narbe an seiner Hand, die er mir mit vollem Stolz präsentierte.
Ja, Loopie hat stets
außergewöhnliche Geschichten in seinem Repertoire.
Einmal habe ich ihm
gesagt: „Loopie, du bist ein merkwürdiger Mensch.“
Seine Antwort? „Ja, Andy!
Und du kennst nur einen klitzekleinen Teil aus meinem Leben.“
Steckbrief:
Name: TIMMY
Alter: ca. 35 Jahre
Mitarbeiter des Zirkus:
Seit knappen 5 Jahren
Timmy ist ein netter Kerl,
ohne Frage. Dennoch ist seine Lebensweise – nennen wir es mal „Besonders“ – in
vielerlei Hinsicht.
Warum? Fangen wir an! Doch
zunächst eine kleine Zwischeninfo:
Hier im Zirkus wird der
Lohn wöchentlich ausgezahlt.
Auf das Bankkonto
überwiesen? Nein.
Es läuft so: Jeder Performer
und Arbeiter im Zirkus macht sich sonntags auf den Weg zum Wohnwagen des
Zirkusdirektors. Es wird geklopft und man erhält einen Briefumschlag mit dem
entsprechenden Lohn – in Cash – das heißt: Bargeld.
Im Falle eines Timmys bringt
das allerdings große Nachteile mit sich, denn:
Woche für Woche das
gleiche Szenario. In aller Kürze und doch Unmissverständlich:
Timmy - Klopfen - Geld - „Danke“ – Shop - Bier -
Zigaretten
Ja, EIN Feierabendbier
darf man sich gönnen.
Wenn aber plötzlich an EINEM
Abend der gesamte WOCHEN-Lohn auf den Kopf gehauen wird, dann ist es doch etwas
zu viel des Guten.
Und nicht selten kommt es
vor, dass er dann am Montag mit Kratzern und Schürfwunden im Gesicht ins
Zirkuszelt kommt, und erzählt „jemand hätte ihn stolpern lassen“.
Ich muss zugeben, das
erste Mal habe ich es ihm abgekauft – Ja, hatte gar Mitleid.
Mittlerweile habe ich ihn aber
bereits mehrmals betrunken gesehen, er ist nicht der sicherste auf den Beinen :)
Ja, aber gestolpert ist er
vermutlich schon –Über seine eigenen Beine :)
Ja, und mittlerweile frage
ich schon gar nicht mehr nach, wenn er montags mit einer neuen Schürfwunde in
die Woche startet.
Ach, da wir gerade bei
Montag sind: Nicht selten kam es vor, dass er wahrhaftig einen Tag nach dem
Zahltag bereits an meinen Wohnwagen geklopft hat.
„Andy? Könntest du mir
vielleicht etwas Geld leihen?“
EINEN TAG nach seinem
Gehalt. Das muss man sich vorstellen.
Unglaublich? Das war noch
nicht alles.
Das Visum von unserem
Breakdancer aus Estland ist abgelaufen, nach knappen 2 Jahren hat er den Zirkus
verlassen.
So war es an der Zeit neue
Mitarbeiter zu begrüßen - alles wurde verständlicherweise auf Vordermann
gebracht.
Man sollte etwas
Eigeninitiative von seinen Mitarbeitern erwarten, was Größtenteils geklappt
hat. Doch bei Timmy musste Jungchef Dominik zu anderen Methoden greifen.
Andere Methoden? Es war
ein Satz.
Ja, ein Satz, den ich
bereits so ähnlich aus meiner früheren Kindheit kannte:
„Timmy, räum dein Zimmer auf!“
Zur Erinnerung: Timmy ist
knappe 35 Jahre alt, ein gestandener Mann sollte man meinen.
Dennoch muss man ihm eine
solche Arbeitsanweisung geben?
Ich konnte es nicht
glauben. Für mich gab es nur eine Erklärung:
Er lebt das Motto „FÜR
IMMER JUNG“ in Perfektion! :)
Somit nimmt er wohl die
Rolle eines junggebliebenen 7-jährigen an.
Und Dominik? Hat keine
Wahl. In diesem Szenario bleibt für ihn nur die Rolle als „Mama Dominik“ übrig.
„Mama Dominik“? Ja, sie
nimmt des Öfteren die Rolle des Spielverderbers in Timmys Leben ein. Warum?
Letztens stand der
Zeltabbau an und Timmy? Er erschien tatsächlich BETRUNKEN zur Arbeit.
Resultat: Mama Dominik
musste gründlich schimpfen!
Puh. Doch für Timmy ist es
glimpflich ausgegangen: Bislang gab es noch keinen Hausarrest! :)
Steckbrief
Name:
Bruce
Alter:
ca. 65 Jahre
Im
Zirkus beschäftigt seit: Über 30 Jahren – Der Dauerbrenner
Bruce.
Ja, Bruce zählt in jedem Falle zum Kreise der interessantesten Menschen, die ich in meinem Leben bislang
getroffen habe. Dieser Mann ist ein Phänomen.
Und
das durfte ich bereits in meinen ersten Tagen im Zirkus feststellen! Warum?
Weil
er bereits bei meiner Ankunft in einem sogenannten „Lockdown“ war.
Dieser
Begriff ist hier im Zirkus sozusagen schon fast ein Synonym für den Lebensstil
von Bruce. Doch was verbirgt sich dahinter?
In
einem solchen Lockdown schließt sich Bruce in seinem Raum ein - Ein Raum mit
der Größe von ungefähr 4 Quadratmetern –winzig.
Allerdings
nicht nur für wenige Stunden, nein. Der Zeitraum kann von wenigen Tagen bis zu
sage und schreibe DREI Wochen reichen.
In
dieser Zeit hört und sieht man nichts von Bruce – keine Spur von ihm. Weder in
der Küche, noch in der Dusche, selbst in der Toilette habe ich ihn in der Zeit nie
gesehen.
Nur
sein Radio läuft – Tag und Nacht.
Sein
sonstiger Zeitvertreib in dieser Zeit? Zigaretten, Bier und jede Menge Schlaf.
Es
ist eine Art „Winterschlaf“, die er da betreibt. Vermutlich wird auch sein
Stoffwechsel heruntergeschraubt, anders kann so etwas kaum möglich sein.
Und
das interessante: Wenn er nach Wochen des Lockdowns wieder den Weg in das
Tageslicht wagt, dann verliert er kein Wort über seine Abwesenheit.
Im
Gegenteil: Er geht nahtlos in seinen „Alltag“ über: Putzt die Trucks, sortiert
alte Werkzeuge, repariert kaputte Maschinen.
Und
plötzlich verschwindet er im nächsten Lockdown.
Anfangs
konnte ich es nicht glauben, dass er tatsächlich die gesamte Zeit in diesem
kleinen Raum verbringt, ich hielt es für unmöglich. Aber es ist wahr: Der
Zirkusdirektor öffnet hin und wieder die „Höhle“ von Bruce – er ist da.
Steckbrief:
Name: Dylan
Alter: ca. 35 Jahre
Im Zirkus beschäftigt:
Mehrere Jahre – bis zu jenem Tag, der alles verändert hat.
Ich werde dich im Folgenden aufklären.
Ja, Dylan. Er war selbst
bereits Performer in mehreren Zirkussen in Australien.
„Flying Trapeze“ zählte zu
seinen Disziplinen, sowie das „Tender Board“, bei dem er teilweise 4 Personen
auf seinen Schultern getragen hat.
Doch mittlerweile ist der
Glanz aus seinem Leben verschwunden.
Aufgrund von körperlichen
Problemen ist dies nicht mehr möglich – was allerdings vorherzusehen war, wenn
man ehrlich ist:
Schultern sind schließlich
nicht dafür geschaffen, tagtäglich das Gewicht von 4 Personen zu tragen!
Ja, und so führt er
mittlerweile für seine Verhältnisse ein recht unscheinbares Zirkusleben.
Unscheinbares Leben mit
ein paar – nennen wir sie mal: PAUKENSCHLÄGEN.
Zwei dieser
„Paukenschläge“ möchte ich euch erzählen. Macht euch bereit:
Der erste spielte sich in
unserer Gemeinschaftsküche ab:
Hungrig machte ich mich
auf den Weg um meinen Bauch zu füllen – in der Küche traf ich auf Dylan.
Zunächst nichts Besonderes festzustellen. Nur die Mikrowelle lief.
Was Feines zu essen?
Nein. Er trocknete gerade
Drogen in der Mikrowelle. Ja, er würde sie trocken bevorzugen,
da könne er besser
einzuschlafen. Puh.
Du denkst das ist
schockierend?
Dann warte bis ich dir von
dem zweiten PAUKENSCHLAG erzähle!
Die Tage nach dem zweiten
„Paukenschlag“ konnte ich an nichts anderes mehr denken, ja, gar bis heute ist
diese Aktion für mich unbegreiflich.
Bereit?
Nur noch mal zur
Erinnerung: Dylan hat bereits mehrere Jahre im Zirkus gearbeitet.
Mehrere Jahre in denen
sich persönliche Bindungen und Freundschaften entwickeln. Mehrere Jahre in
denen Erinnerungen entstehen, die einem doch viel Wert sein sollten.
Ja, so erwartet man es –
bei „normalen“ Personen.
Dylan? Dylan hält davon
nichts – wie sich herausstellte. Seht selbst:
Es war an einem Samstag.
Wir hatten eine Zirkusshow und alles schien wie immer.
Dylan war anwesend, erledigte
seine Aufgaben, nichts außergewöhnliches.
Und dann? Plötzlich war er
weg. Verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
Was ist passiert? Während
der Zirkusshow hat er einen sogenannten „Runner“ gemacht.
Sprich: All seine Sachen
gepackt und das Weite gesucht.
Einfach abgehauen. Ohne
etwas zu sagen. Doch es sollte noch schlimmer kommen:
Dylan teilte mit dem
Kollegen Dustin den Wohnwagen, sie waren Freunde.
Wirklich? Dustin fehlten
plötzlich 700 Dollar. Gestohlen. Von seinem „Kumpel“ Dylan.
Dann wurde direkt die
Polizei informiert und direkt die Fahndung aufgenommen.
Auch unser Jongleur Yibi
startete eine Verfolgungsjagd: Er machte sich sofort auf eigene Faust auf den
Weg zur Zugstation – Denn: Dylan musste ohne Auto unterwegs sein.
Yibi blieb leider ohne
Erfolg. Dennoch ist die Verfolgungsjagd geglückt:
Bereits 2 Stunden später war
Dylan auf der Policestation.
Wer hatte ihn gefunden?
Die Polizei. In einem Casino. Am Spielautomaten.
Die 700 Dollar? Bereits
komplett verspielt.
Ich konnte es nicht
glauben. Schockierend. Unglaublich.
Ja, diese Story könnte man
direkt verfilmen.
Aber wisst ihr was das
schlimmste ist?
Ich dachte Dylan zu
kennen. Ich dachte, er sei in Ordnung. Ich habe stets das Gute in ihm gesucht
und nun wurde mein Glauben an die Menschheit in den Grundfesten erschüttert.
Ich konnte die ersten Tage
an nichts anderes denken – es hat mich schockiert. Ehrlich.
Nun
seid ihr informiert.
Natürlich
sind nun alle Schattenseiten auf diesen einen Rundbrief fokussiert. Das wirkt
nun zunächst schockierend.
Dennoch
muss man dies in Relation zu den vergangenen Berichten sehen, die stets schöne
Dinge beinhaltet haben – unzählige schöne Dinge.
Deswegen
möchte ich diesen Rundbrief mit einem Satz beschließen. Ein Satz den ihr wissen
müsst. Ein Satz, den ich unglaublich wichtig finde:
Aus
den tiefsten Quellen meiner Überzeugung kann ich sagen, dass das Kapitel Zirkus
unglaublich wundervoll und für mich einfach unbezahlbar war.
Vielen
Dank für die Aufmerksamkeit.
Australien,
9.3.2013
Andreas
Otto Franziskus Schaible